Oft wird ein Augenrollen ausgelöst, wenn gleich am Anfang in Musikbiografien der Satz steht: Schon in jüngsten Jahren begann sie zu singen und ein Instrument zu spielen. Aber sollte man diesen Punkt verschweigen, wenn er der Wahrheit entspricht und den tatsächlichen frühen Beginn eines musikalischen Interesses und am Ende gar einer wirklichen Begabung markiert? Im Falle von Sotiria (gr.: „die Retterin”) ist es tatsäch-lich so, dass sie mit acht Jahren Klavier- und Gesangsunterricht bekam.
Dazu kamen die Veranstaltungen, die ihr Stiefvater auf die Beine stellte: „Er hat früher Straßenfeste organisiert, bei denen auch Bands gespielt haben. Darunter eine RocknRoll-Band seines Freundes Hans – mit einer tollen Sängerin. Ich stand dann da mit acht Jahren vor der Bühne und wusste: Da oben will ich hin und singen.“ Hans schrieb auch selber Songs und „wir nahmen davon einige auf, richtig auf CD im Eigen-verlag – Kinderlieder mit einer Message. So konnte ich letztes Jahr schon mein 25jähriges Bühnenjubiläum feiern, denn mit meinen Liedern bin ich dann auch auf die-sen Festen aufgetreten!“ Dadurch lernte die junge Sängerin auch immer wieder neue Produzenten kennen: „Nach den Kinderliedern sang ich einen Dance-Remix des Titel-songs der beliebten TV-Serie Flipper. Dazu haben wir sogar ein Video inklusive `Schwimmen mit Delphinen in den USA gedreht. Als ich ca. 13 Jahre alt war, habe ich mit einem anderen Produzenten-Team Deutsch-Pop gemacht, durch die Auftritte kam es dann wiederum zu einem Kontakt mit BMG und Valicon und so konnte ich 2001 den Titelsong „Mädchen müssen härter sein“ der Komödie Mädchen, Mädchen einsin-gen.“
Die Begegnung mit dem Valicon-Team sollte Jahre später den Weg zum ersten großen Erfolgs-Kapitel ebnen. Man suchte eine Sängerin für ein neues Projekt und erinnerte sich an Sotiria: Eisblume war geboren. In den kommenden vier Jahren, nach Veröffent-lichung der Top 3-Single „Eisblumen“ (2009), startete die junge Band so richtig durch – Düster-Pop wurde ihr Stil genannt. Die Puristen rümpften die Nase, aber aufgeschlos-sene Medien aus dem Gothic-Genre bis hin zu VIVA und BRAVO begleiteten Eisblume bei ihrem Siegeszug mit zwei Top 20-Alben und drei Echo-Nominierungen. „Auftritte bei The Dome und Rock am Ring, unzählige Fans, die auf einmal meine Lieder sangen – der Erfolg kam so schnell und überraschend, dass ich ihn damals, mit Anfang 20, kaum verarbeiten konnte. Das war alles so surreal. Ich war so überflutet und überwältigt, ich konnte das alles gar nicht greifen und verstehen. Nach den zwei Alben habe ich ge-merkt, dass ich das so nicht mehr wollte. Alle meine Freunde hatten studiert oder eine Ausbildung gemacht und ich bin direkt nach dem Abi und einem Jahr Studium vom Erfolg aufgesogen worden. Aus Zeitgründen musste ich damals die Uni abbrechen und nach ein paar Jahren habe ich gemerkt, dass ich mehr Struktur, Normalität und Sicher-heit in meinem Leben haben möchte. Und so bin ich von der Bühne zurück zur Uni: Wirtschaftskommunikation – und dieses Mal auch abgeschlossen.“
Wie es so ist mit einer großen Liebe: Man vergisst sie nie. Nach einigen Jahren der Normalität vermisst Sotiria die Musik: „Ich habe wieder angefangen, Songs zu schrei-ben. 2016 bin ich dann zu einer der letzten Unheilig-Konzerte – die Jungs kannte ich schon flüchtig – und kam nach der Show mit dem Grafen ins Gespräch. Ich erzählte ihm, dass ich gerne wieder Musik machen würde, aber noch nicht so richtig weiß, wo-hin die Reise gehen soll. Daraufhin meinte der Graf ganz locker: Cool, ich höre jetzt eh auf, dann können wir ja ein Album zusammen machen.“
Und so wurde das zweite Kapitel aufgeschlagen. Man traf sich zu langen Gesprächen („Ich erzählte alle Geschichten, die wichtig für mich waren, habe die Themen aufge-schrieben, die mich beschäftigten und bewegten und die ganzen Sachen, die in meinem Kopf so los waren“), der Graf schrieb ihr das Album praktisch auf den Leib. Ihre Ge-schichten, ihr Leben wurden zu seinen Songs, die sie dann aufnahm. Ein grandioser Erfolg: „Hallo Leben“ (2018) erreichte Platz 6 der Album-Charts, hielt sich dort elf Wo-chen. Durch den Titelsong, einem Duett mit dem Grafen, wurde ihr von den Medien das musikalische Erbe von Unheilig übertragen. Es schaffte zum ersten Mal auch ein eigener Sotiria-Song den Sprung auf das Album: „Wunderwerk“, bei „Wer bist du“ war sie Co-Autorin. “Ein Licht für Dich” beschreibt die ganz persönliche Suche nach ihrer Identität und das schwierige Verhältnis zu ihrem leiblichen Vater. „Ich hatte sehr viele offene Fragen. Wer bin ich? Wo gehöre ich hin? Was ist wichtig für mich? Der Song beschreibt die Suche nach ihm und seiner Liebe, um mich selbst besser zu verstehen und zu finden“. Es war über das erste Album zu lesen: Ehrliche Songs über Verletzlich-keit und Stärke, über Schmerz, Einsamkeit, Angst und den unerschütterlichen Glauben an sich selbst und das Gute im Leben, über tiefsinnige Texte mit persönlichen Hinter-gründen. Verletzlich, aber auch stark und selbstbewusst.
Diese Themen, die das Leben der 34-jährigen Künstlerin bestimmen, finden sich auch auf ihrem neuen Album wieder. All die Dinge, die in ihrem Kopf so los sind – und in ihrem Herzen. Das Ende von (Liebes-) Beziehungen, die Unfähigkeit zu lieben, sich zu öffnen, einem neuen Partner Vertrauen zu schenken, die Frage, ob echte Liebe noch möglich sein kann, ein genereller Vertrauensmangel, Ängste, Einsamkeit und allerlei harte Erfahrungen. Aber auch: positive Gedanken, Aufbruch, nach vorne blicken und sogar: Liebeslieder. Denn: „Ich bin trotzdem ein lebensfroher Mensch, bin nicht je-mand, der nur zuhause sitzt und weint.“
„Mein Herz“ – das neue, dritte Kapitel im Karrierebuch der talentierten Sängerin und nun auch: Songschreiberin.
„Es ist natürlich eine große Überwindung, diese ehrlichen Stories über mein Leben preiszugeben, meine Geschichten und Gedanken zu erzählen, mich nackig zu machen. Ich schreibe ja auch über Ängste und Abgründe, das ist ein wahnsinniges Öffnen.“
Über vierzig neue Titel sind so im Laufe eines Jahres entstanden, siebzehn davon haben den Weg auf „Mein Herz“, produziert von Henning Verlage (Unheilig und u.a. Peter Heppner, Eisbrecher) geschafft. Die erste (selbstgeschriebene) Single „Einfach nur ein Mädchen“, die schon im letzten Jahr erschien, war ein Meilenstein für die Berlinerin: „Es hat mich viel Mut gekostet, mich so zu öffnen und diesen Song zu schreiben, aber es war gleichzeitig auch befreiend. Ich musste erst lernen, dass ich nicht perfekt sein muss, um geliebt zu werden. Dass es total ok ist, wenn ich meine Schwächen und Äng-ste zeige und ich nicht immer stark sein muss“.
„Ich schau nach oben“ ist zusammen mit der Sängerin Madeleine Juno entstanden. Es geht wiederum (wie schon im Titel „Ich lass Dich frei“ vom ersten Album) um ihre ver-storbene Oma, die ihr sehr nahestand. „Ich wollte nochmals einen Song über ihren Tod schreiben, aus einer anderen Perspektive. Weil der Schmerz weitestgehend verarbeitet ist und ich nun anders auf den Tod blicke.“
„Vielleicht“ ist auch eine Fortsetzung eines Titels vom Vorgänger-Werk („Wer bist du“). In dem Lied geht es um das schwierige Verhältnis zu ihrem leiblichen Vater, der sie oft enttäuscht hat: „Als ich 14 oder 15 war, war ich auf der Suche nach meiner Identität und habe den Kontakt zu meinem Vater gesucht. Wir hatten immer ein extrem schwie-riges Verhältnis, weil er so unzuverlässig war, nicht zu Treffen erschienen ist. Dann wieder ein oder zwei Jahre komplett verschwunden war. Ich habe mir lange gewünscht, dass er mir zuhört und sieht wer ich bin, dass er mich wahrnimmt und für mich da ist. Und nun will er es, aber für mich ist es total schwer, es wieder zuzulassen.“
Ein hartnäckiger Ohrwurm auf dem Album ist der Titel „Herz“. „Ich bin großer Billie Eilish-Fan: Sie hat oft melancholische Texte und Themen, die sie aber trotzdem in Up-tempo – Nummern verpackt, nicht als Ballade veröffentlicht. Das finde ich ganz toll – und das hat mich zu dem Song inspiriert.“ So ist es ein temporeicher Party-Track ge-worden – mit schwermütigem Text.
„Im Zuge des Lockdowns hab ich zusammen mit Giovanni Zarrella das Duett „Nati per la vita / Geboren um zu leben“ aufgenommen. Eigentlich haben wir das nur für Social Media gedacht, aber das Feedback war so positiv, dass wir den Song einfach noch mit auf das Album genommen haben und es ist für mich eine wunderschöne Verbeugung vor dem Grafen, der mich so sehr unterstützt hat.“
Musikalisch ist das Album zwischen Pop und Schlager angesiedelt. Diese Diskussionen könnten über „Mein Herz“ wieder geführt werden.
„Für mich als Künstlerin ist das Schubladendenken schwer, ich bin immer schon zwi-schen den Genres geschwommen. Früher war es zwischen Gothic und Pop, jetzt schwimme ich zwischen Pop und Schlager. Ich habe einen Hang zur Melancholie, bin reflektierend und hinterfragend, mache mir viele Gedanken – das spiegelt sich in mei-nen Texten wider. Für mich ist das Emo -Musik, also Musik mit Emotionen. Ich schrei-be die Musik so, wie sie aus mir herauskommt, ohne dabei zu überlegen: Will ich jetzt ein Pop- oder Schlageralbum machen? Ich habe mal gesagt, ich mache Emo-Schlager oder Emo-Pop…aber das muss jeder für sich definieren. Zumal letztendlich das Produk-tionsgewand die Songs in einem bestimmten Genre stattfinden lässt.“
Sotiria bewegt sich ohne Angst genreübergreifend. Sie hat ihre musikalische Komfort-zone verlassen und ein für sie völlig neues künstlerisches Territorium betreten, sich mit ihrem ehrlichen Songwriting „nackig gemacht“. Noch nackiger wirkt es, wenn man sich die fantastischen Akustik-Versionen der Titel anhört, die es auf der Deluxe-Edition zu hören gibt!
Sotiria gehört mit dem Album zu den faszinierendsten deutschsprachigen Künstlerin-nen mit einer der emotionalsten Stimmen des Landes!